Früh übt sich! Warum wir Kinder ableismussensibel begleiten sollten
... und mich das Thema, seitdem ich Mutter bin, noch einmal mehr beschäftigt.
Mein SAND-Status seit der letzten Ausgabe:
Notbetreuung: 0 Tage (jedoch hoher Krankenstand, oh weh, oh wei)
Nervenzusammenbrüche: 1 (Danke, Europawahl 2024)
Sand Zuhause: 150 Gramm
An meine Kindergartenzeit habe ich sehr intensive und durchweg positive Erinnerungen. Meine Kita war eine integrative Montessori-Einrichtung, angeschlossenen an ein Kinderneurologisches Zentrum. Neben dem Montessori-Konzept lag der Fokus also auf der Inklusion und Förderung von Kindern mit Behinderung.
Eine meiner besten Freundinnen damals war ein halbseitig gelähmtes Mädchen, ich nenne sie hier Anna. Sie konnte ohne Hilfsmittel laufen, doch ihr rechter Arm war fast komplett gelähmt, was Anna und ich ganz pragmatisch für uns nutzten: Wir legten ihn immer als Begrenzung auf den Tisch, damit unsere Memory-Karten beim Mischen nicht herunterfielen. Beim Toben im großen Garten und von allen Spielen, Streichen und Ideen, die Kinder in der Kita so haben, war Anna immer ein Teil. Und wenn ich mich mit ihr stritt, was gar nicht mal so selten vorkam (Kinder eben), flogen meine Fäuste und ihr Arm. Mit dem konnte sie nämlich ganz schön ausholen und zulangen.
Kein Kind hat Anna, oder überhaupt irgendein anderes Kind aus unserer Kita, aufgrund der individuellen Beeinträchtigung als anders wahrgenommen. Wir Kinder teilten unseren Alltag und waren selbstverständlich in unserem Sein. Auch war die Kita barrierefrei gestaltet. Die Möglichkeit der Teilhabe am täglichen Geschehen in allen Räumlichkeiten sowie dem Außenbereich hatten somit alle Kinder, was Gedanken von Einschränkung vonseiten der nicht-behinderten Kinder oder die Inanspruchnahme von Hilfe seitens der Kinder mit Behinderung obsolet machte. Und die Selbstverständlichkeit in unserem Zusammensein manifestierte.
Behinderung sozial begegnen, anstatt zu pathologisieren
Ich sitze auf dem Spielplatz. Er ist nicht wirklich barrierefrei, wie übrigens fast alle Spielplätze in unserem Bezirk. Ich überschlage im Kopf, wie viele Kontaktpunkte Polly, meine dreijährige Tochter, in ihrem Leben bereits mit Kindern bzw. Menschen mit Behinderung hatte. Ich kann sie an einer Hand abzählen. In unserer Kita ist Inklusion kein Teil des Konzepts. Das Kinderturnen ist barrierefrei gestaltet, bisher habe ich aber keine behinderten Kinder dort gesehen. Auch auf den Spieplätzen kommt es so gut wie nie zu Begegnungen, wie ich annehme aus besagten Gründen.
Wie kann das sein? Laut Statistischem Bundesamt leben rund 9,4 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung mit einer schweren Behinderung (Stand 2022). Am 24. Februar 2009 ratifizierte Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention. Sie betrachtet Behinderung aus einem anderen Blickwinkel. Statt dem Thema auf medizinischer Ebene zu begegnen, also die Diagnose / körperliche Beeinträchtigung in den Fokus zu nehmen, wird Behinderung sozial betrachtet. Welche Barrieren behindern Menschen mit Beeinträchtigungen in Alltag und Berufsleben? Welche Einstellung hat unsere Gesellschaft gegenüber diesen Menschen?
-Ismen verlernen? Sehr unangenehm und sehr wichtig
In diesem Jahr feiert die Ratifzierung der UN-Behindertenrechtskonvention 15-jähriges Bestehen. Was die Akzeptanz, Inklusion und Teilhabe am Alltag von Menschen mit Beeinträchtigung in Deutschland angeht, gibt es auch 2024 noch allerhand Nachholbedarf – auf allen Ebenen. Und um die Brücke zu schlagen zu meiner Kindergartenzeit: Ich begegne Menschen mit Behinderung durch diese prägende und schöne Zeit sicherlich wertefreier und ohne Berührungsängste. Dennoch habe ich durch die aktivistische Arbeit von Behinderten noch extrem viel gelernt und internalisierten Ableismus entlarvt. Ein unangenehmes und wichtiges Gefühl. Wie bei allen -ismen, wenn man sich daran macht, sie zu verlernen.
Eine ableismussensible Erziehung ist mir bei meinen Töchtern sehr wichtig. Ich möchte, dass sie tolerant aufwachsen und selbstbewusst für andere Menschen einstehen. Und dennoch habe auch ich, bei allem Content, den ich hierzu konsumiere, oft Fragezeichen im Kopf, wenn es darum geht, meiner Tochter hier ein Vorbild zu sein. Ein Wegweiser war das großartige und wichtige Buch „Bist du behindert, oder was?“ von Rebecca Maskos und Mareice Kaiser. Es unterstützt Erziehende dabei, Kinder ableismussensibel zu begleiten und für das Thema zu stärken. In Erfahrungsberichten nehmen uns Menschen mit Behinderung mit in ihr Großwerden und offenbaren ihre größten Hürden, Wunden und Wünsche. Das Buch ist eine tolle Anleitung dazu, es besser zu machen und im eigenen Alltag Veränderung anzustoßen. Grund genug, die beiden Autorinnen um ein kleines Interview zu bitten!
Die Sonderwelten aufbrechen – Im Gespräch mit Mareice Kaiser und Rebecca Maskos
Gibt es bei Kindern ein „zu früh“, um sich mit Inklusion und Ableismus auseinanderzusetzen?
Mareice: Kinder lernen ziemlich früh, dass es Unterschiede zwischen Menschen gibt. Deshalb finde ich, dass es kein „zu früh“ gibt, das auch zu thematisieren. Sobald Kinder diskriminieren können (und das können sie sehr früh), sollte man mit ihnen auch über Anti-Diskriminierung sprechen.
Rebecca: Kinder stellen gern Unterschiede zwischen Menschen fest, weil sie sich ja auch selbst in einer komplexen Welt verorten müssen – entscheidend ist, wie Erwachsene diese Gespräche über Unterschiedlichkeiten begleiten.
Die Schulzeit nimmt in den Erfahrungen der Betroffenen einen großen, prägenden und oft schmerzhaften Raum ein. Das deutsche Schulsystem ist auf vielen Ebenen diskriminierend. Habt ihr Empfehlungen oder Ideen, wie man das Thema Inklusion an der Schule (oder auch Kita) anspricht und vorantreibt?
Mareice: Ich sehe da die Verantwortung vor allem bei Eltern von nichtbehinderten Kindern. Sie sollten explizit nach Inklusion fragen und sie erstreiten.
Rebecca: Es hilft, immer wieder zu fragen "wer fehlt"? Und dann ganz konkret zu überlegen, wie man die Fehlenden hinein holen kann. Manchmal ist das gar nicht so aufwendig. Vielleicht braucht es nur eine Rampe oder einen Raum, in dem es ruhiger ist. Man kann Kinder und ihre Eltern auch fragen, was sie brauchen, und ihnen ganz konkrete Unterstützung anbieten, ihre Bedürfnisse der Leitung zu kommunizieren.
Ableismus ist noch immer salonfähig und findet in der Mitte der Gesellschaft statt. Das ist gefährlich und mitunter tödlich. Warum hängt Deutschland in Sachen Inklusion so hinterher im internationalen Vergleich?
Rebecca: In Deutschland sind die separierenden Systeme (Förderschule, Werkstätten, Wohneinrichtungen usw.) besonders gut ausgebaut. Nachdem in der Nazizeit behinderte Menschen zu Hunderttausenden ermordet wurden, dachte man, man tut ihnen was Gutes, in dem man "besondere" Einrichtungen für sie schafft. Was früher sinnvoll war, um behinderte Menschen überhaupt aus dem isolierenden elterlichen Zuhause herauszuholen, hat sich über die Jahrzehnte zu Sonderwelten verfestigt, die genau das Gegenteil von Inklusion darstellen. Das Problem ist, dass viele Menschen von der Separation profitieren: Werkstättenbetreiber, Einrichtungsmitarbeiter*innen, Förderschullehrer*innen ... ganze Berufsstände leben von den Sonderwelten. Die haben kein Interesse daran, dass sich das so schnell ändert und machen recht erfolgreiche Lobbyarbeit auf politischer Ebene.
Die meisten Behinderungen sind erworben, nur 3,3 % der Menschen in Deutschland kommen mit einer Behinderung zur Welt. Warum finden Behinderte noch immer am Rand der Gesellschaft statt?
Rebecca: Behinderung ist ein Thema, mit dem sich nichtbehinderte Menschen eher ungern beschäftigen. Es erinnert sie sehr an ihre eigene Verletzlichkeit und Abhängigkeit. Gerade das aber zeichnet uns als Menschen ja aus.
Mareice: Das kapitalistische System, in dem wir leben, will funktionierende, gesunde, nicht behinderte Menschen. Behinderungen haben darin keinen Platz. Das sehen wir ja schon ganz am Anfang, während der Schwangerschaft. Behindertes Leben ist nicht erwünscht und wird gern weggeschoben. Bis es uns selbst betrifft.
Wie können wir unsere Mehrheitsgesellschaft überwinden?
Rebecca: Das ist eine sehr große Frage, die man nicht einfach beantworten kann. Das wichtigste ist, dass wir damit anfangen - zum Beispiel, indem wir uns mit unserer eigenen Normalität beschäftigen und sie infrage stellen.
Mareice: Diese große Frage können wir nicht allein beantworten, sondern nur zusammen. Und zwar nicht nur wir zu dritt, sondern alle. Vor allem die Menschen, die bisher in der Mehrheitsgesellschaft wenig oder gar nicht zu Wort kommen.
Vielen Dank euch beiden für eure Zeit und die Antworten!
Kinder ableismussensibel begleiten - ein Anfang
Ich bringe meinen Kindern bei, dass Menschen unterschiedlich sind und dass das gut so ist. Kein Mensch ist wie der andere und genau diese Vielfalt macht unsere Gesellschaft bunt und toll. Dafür müssen aber auch allen diese Türen offenstehen und Teilhabe zum Standard werden. Ich wünsche mir, dass die Generation unserer Kinder das verinnerlicht und umsetzt. Unterschiede auf Augenhöhe zu benennen, ist dabei ebenso wichtig, wie zu verhindern, sie als Inspiration zu missbrauchen. Mithilfe von Kinderbüchern, die Behinderungen ganz natürlich in ihre Geschichten integrieren, wie etwa vom Zuckersüßverlag, Familiar Faces oder Buuuch, gelingt es mir am besten, das Thema in unsere täglichen Routinen einzuflechten und zu einem Teil unseres Alltags zu machen. Gerade weil die direkten Berührungspunkte gerade noch selten sind. Ich beantworte alle Fragen meiner Tochter ehrlich und habe ein besonderes Augenmerk darauf, dass sie Hilfsmitteln, wie Rollstuhl oder Stock, respektvoll begegnet und sie nicht einfach anfasst. Niemals würde ich mein Gegenüber bitten, die eigene Behinderung für mein Kind zu erkären. Zum einen ist es privat und nicht wichtig, zum anderen ist es meine Aufgabe, hier einzuordnen. Auch und gerade bei unsichtbaren Behinderungen. Wie integriert ihr Behinderung in eure Erziehung und euren Alltag?
Das Mama-Gedankenkarussel: Internalisierter Ableimus in der Geburtshilfe
Gerade rund um Schwangerschaft und Geburt leidet unser leistungsorientiertes System unter Ableismus. Das fängt bei der Repräsentation und Inklusion von behinderten Gebärenden an (in Geburtsvorbereitungskursen, in Fachärzt*innen-Praxen, in Fachliteratur) und hört auf beim gesellschaftlichen Konsens, dass das Ziel jeder Geburt „hauptsache, das Kind ist gesund“ lautet. Und ich packe das hier bewusst in Gänsefüßchen, da hier Behinderung bzw. die Abweichung von der Norm pathologisiert wird. Der Mensch also nicht sozial, sondern medizinisch betrachtet wird. Ein behindertes Kind zu bekommen, ist eine der größten Ängste von Schwangeren. Angefeuert von einem Gesundheitswesen und einer Gesellschaft, die Behinderung als pathologisiert. Ich würde sogar soweit gehen und auch aus eigener Erfahrung zu sagen, dass es das Nummer-Eins-Thema unter Schwangeren ist. Warum ist das so?
Wir haben in Deutschland ein sehr gut funktionierendes System der Pränatal-Diagnostik – und das lest ihr bitte mit einem zynischen Unterton. Im Juli 2022 wurde der sogenannte NIPT (Nicht-invasive Pränataltest) in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. Beim NIPT wird die fetale DNA, also die DNA des ungeborenen Babys, im mütterliche Blut auf die Trisomien 13, 18 und 21 untersucht. Ich habe dazu eine extrem ambivalente Meinung und hätte vor einem Jahr noch ganz anders dazu geschrieben, denn auch ich bin alles andere als befreit von meinem internalisierten Ableimus. Erst am Wochenende sagte eine Freundin mir mit einer unverrückbaren Überzeugung, dass sie immer das Kind behalten würde. Ich hingegen habe mich in die Pränatal-Diagnostik begeben, ohne zu wissen, wie ich mich entschieden hätte. Rückblickend halte ich das für einen großen Fehler. Vonseiten der Ärzt*innen ist die Beratung zu dem Thema, wenn sie überhaupt wirklich stattfindet, klar: Besser nicht. So entscheiden sich dann auch fast alle Gebärenden, wenn sie von einer möglichen Diagnose erfahren. Würde unsere Gesellschaft Behinderte wirklich integrieren und mit offenen Armen aufnehmen, ich bin sicher, diese Entscheidung wäre nicht halb so schwer zu treffen.
Umso mehr brauchen wir Menschen wie Thekla Wilkening, Autorin und Aktivistin. Ihre Tochter Toni kam mit Trisomie 21 zur Welt - als absolutes Wunschkind. In ihrem Newsletter „Von Hybris und Weltschmerz” nimmt Thekla uns mit in ihren Alltag und ihr Familienleben und zeigt, wie wunderschön dieses Leben ist. Für SAND habe ich Thekla um ein Statement gebeten, denn mir war es ein Anliegen, jemanden zu Wort kommen zu lassen, der ein Gegengewicht zum vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens darstellt, dass ein Kind mit Behinderung eine Bürde darstellt. Danke, Thekla!
Gestatten: Thekla Wilkening und ihre Tochter Toni
„Im fünften Monat meiner Schwangerschaft erfuhren wir, dass unsere Tochter das Down-Syndrom hat. Es wurde zufällig entdeckt, wir hatten bewusst auf Pränatal-Tests verzichtet. Tatsächlich aber waren wir dankbar, es doch vor ihrer Geburt zu wissen, weil es uns Zeit gab, die Diagnose anzunehmen und als ich Toni schließlich zur Welt brachte, ganz bei ihr zu sein.
Ich denke, es war auch für alle um uns herum hilfreich zu wissen, dass es uns bekannt ist. Für Ärzt:innen ist es ein sensibles Thema, unserer Erfahrung nach ist der Umgang damit oft defensiv, um Eltern auf das Schlimmste vorzubereiten und am Ende nicht für falsche Hoffnungen verantwortlich zu sein. Darin sehe ich auch die Gefahr des Nicht-invasiven Pränataltests, kurz NIP-Test, der in der DNA des Fötus ab der zehnten Schwangerschaftswoche Trisomien feststellen kann. Eine Trisomie 21, das Down-Syndrom, gilt als hinreichender Grund für eine Abtreibung, quasi bis zur Geburt des Babys. Eine mögliche Auswirkung des NIP-Tests könnte sein, dass das Ergebnis als Bedingung für die Weiterführung der Schwangerschaft gewertet wird. Schließlich treiben neun von zehn Paaren nach der Diagnose ab. Mich macht das traurig, denn ich bin mir sicher, viele von ihnen könnten ganz fabelhafte und liebevolle Eltern für ein Kind mit Down-Syndrom sein, wenn sie nur dazu ermutigt würden. Diese Aufgabe sehe ich aber nicht bei Ärzt:innen. Stattdessen fände ich es sinnvoll, genetische Tests wie diesen in unabhängigen Schwerpunktpraxen mit Expert:innen durchzuführen, die werdende Eltern umfassend und stärkend beraten können.
Um werdende Eltern zu ermutigen, die Entscheidung für ein Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom zu treffen, schreibe ich Texte über unser wildes und wunderschönes Leben mit Toni auf.“
Informiert euch, werdet Allys!
Ich habe diesen Newsletter vor den Ergebnissen der Europawahl 2024 begonnen und tippe diese letzten Zeilen mit Bauchschmerzen. Europaweit hat sich ein deutlicher Rechtsruck abgezeichnet, umso mehr heißt es nun, sich zu informieren und ein Ally zu sein. Gerne möchte ich euch einige Accounts ans Herz legen, die mich mit ihrer (kostenfreien!) Arbeit schon vieles gelehrt haben.
Da wäre Raúl Krauthausen, Aktivist und Autor mit tollem Humor und Newsletter. Viel lernen und ebenfalls lachen darf man bei Laura Gehlhaar. Die Aktivistin und Beratin Luisa L’Audace piekst dahin, wo es unbequem ist. Bárbara Zimmermann ist pflegendes Elternteil und hat zusammen mit Simone Rouchi und Anna Mendel den Blog Kaiserinnenreich von Mareice Kaiser übernommen. Jasmin Dickerson ist ebenfalls pflegende Mama. Die Geschwister Marian und Tabea haben den Account Not Just Down gestartet und berichten aus ihrem bunten Leben mit dem Down-Syndrom. Ebenso Marina Lewandowski, Model und Illustratorin mit Down-Syndrom. Wen kennt ihr noch?
Danke für’s Lesen! Die nächsten Ausgabe von SAND – Der Newsletter für Eltern erscheint in zwei Wochen. Darin nimmt euch Franzi mit und erzählt von ihrer langen Reise zum Wunschkind.
Übrigens sind wir noch immer auf der Suche nach den schönsten Spielplätzen – und natürlich auch den schönsten barrierefreien Spielplätzen! Also, schickt uns eure Lieblingsadressen an hello@allessand.de!
❤️